Aufruf

Translations of our call / Übersetzungen von unserem Aufruf:

Aufruf 2016

„Marsch für das Leben“? – What the fuck!
EUER SCHWEIGEN KÖNNT IHR EUCH SCHENKEN! LIEBER FEMINISMUS FEIERN!

Antifeminismus sabotieren! Für körperliche Selbstbestimmung demonstrieren! Christliche FundamentalistInnen blockieren!
Dem Marsch, seinen AkteurInnen und ihrem Gedankengut entschlossen entgegentreten!

Für den 17. September 2016 mobilisiert der Bundesverband Lebensrecht (BVL) zu einem „Marsch für das Leben“ in Berlin. Der „Marsch“, der bereits seit 2002 in Berlin stattfindet, ist einer der wichtigsten öffentlichen Auftritte der selbsternannten „LebensschützerInnen“ (1), bei dem sie sich für ein generelles Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen einsetzen sowie ein christlich-fundamentalistisches Weltbild zelebrieren. Letzteres beruht auf der patriarchal-bürgerlichen Kleinfamilie, Zweigeschlechtlichkeit, einer strengen Sexualmoral und der Ablehnung von Trans*identitäten, Inter*geschlechtlichkeit und Homosexualität.
Beim dem „Marsch für das Leben“ handelt es sich um einen Schweigemarsch, bei dem die Teilnehmenden um abgetriebene Embryonen trauern, die sie als getötete Kinder verklären.
Derzeit schließen sich konservative, christlich-fundamentalistische, reaktionäre, rechte und faschistische Kräfte vermehrt zusammen. Dabei dient auch der Antifeminismus als ein verbindendes Thema, über das breite Bündnisse geschlossen werden können. Dementsprechend finden sich unter den TeilnehmerInnen der jährlich stattfindenden „Schweigemärsche“ PolitikerInnen der CDU/CSU und AfD, VerschwörungstheoretikerInnen, „LebensschützerInnen“ und AkteurInnen der neuen und extremen Rechten. Im letzten Jahr folgten dem Aufruf des BVL ca. 5000 Menschen.
Auch vor dem Hintergrund der Wahlen für das Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September wollen wir in diesem Jahr die Abtreibungs-GegnerInnen nicht ungestört ihre antifeministischen und reaktionären Positionen verbreiten lassen! Wir werden am 17. September für körperliche Selbstbestimmung und eine solidarische Gesellschaft demonstrieren und anschließend den „Marsch für das Leben“ blockieren!

Noch immer kein Recht auf Abtreibung in Deutschland?! WTF?!

Schwangerschaftsabbrüche gelten auch in Deutschland gemäß §218 Strafgesetzbuch als Straftat, sind also rechtswidrig und bleiben nur unter bestimmten Voraussetzungen (Indikationen) straffrei:

  • Innerhalb der ersten 12 Wochen einer Schwangerschaft kann die schwangere Person eine Abtreibung vornehmen lassen – allerdings muss sie zunächst eine „Schwangerschaftskonfliktberatung“ über sich ergehen lassen und eine anschließende Wartefrist von 3 Tagen einhalten, die sogar zu einer Überschreitung der 12 Wochenfrist führen kann. Diese Zwangsberatung kann ganz unterschiedlich ablaufen, generell muss sie ergebnisoffen gestaltet sein. Es gibt aber immer wieder „Beratungsstellen“, die die schwangere Person unter Druck setzen und deutlich von einer Abtreibung abraten.
  • In den ersten 12 Wochen ist eine Abtreibung ohne erzwungene Beratung möglich, wenn die Schwangerschaft nach ärztlicher Erkenntnis durch ein Sexualdelikt entstanden ist.
  • Eine Abtreibung ist auch nach der 12ten Woche möglich, wenn mit einer schwerwiegenden körperlichen oder seelischen Gefahr der schwangeren Person etwa durch „erhebliche gesundheitliche Schäden des Kindes“(Gesetzesbegründung des §218a StGB) zu rechnen ist.

Die Fristenlösung, geregelt durch §218 f. StGB, ist repressiv, sie unterdrückt die Selbstbestimmung schwangerer Personen. Dabei sollte auch beachtet werden, dass nicht alle Menschen gleichermaßen von der deutschen Regelung Gebrauch machen können. Illegalisierte und geflüchtete Menschen haben in Deutschland zwar einen Zugang zu medizinischer Nothilfe. Geflüchtete Menschen, die gemeldet sind, müssen allerdings jede Behandlung von einer staatlichen Angestellten bewilligen lassen. Illegalisierte Menschen müssen damit rechnen, nach einer Behandlung abgeschoben zu werden.
Um die Folgen der Kriminalisierung von Abtreibungen deutlich zu machen: In den Ländern, in denen Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert sind bzw. der Zugang zu legalen Abtreibungen massiv erschwert wird, nehmen schwangere Personen Abbrüche meist illegal vor. Dies bedeutet, dass die Abbrüche oft sehr teuer sind und unter schlechten medizinischen und hygienischen Umständen durchgeführt werden, oft durch Laien. Auch notwendige Nachbehandlungen im Fall von Komplikationen werden erschwert, da die betroffenen Personen mit einer Strafverfolgung zu rechnen haben. Dies birgt ein hohes gesundheitliches Risiko für die schwangeren Personen und kann sogar zum Tod führen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sterben weltweit jährlich etwa 47.000 Menschen bei illegalisierten Schwangerschaftsabbrüchen (Angaben von 2008). Dennoch fordern konservative und völkische AkteurInnen sowie christliche FundamentalistInnen das uneingeschränkte Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen im Namen des Lebens, wie z.B. die Berliner AfD unter dem Deckmantel der „Willkommenskultur für ungeborenes Leben“.

Die „LebensschützerInnen“ behaupten, dass jede Abtreibung eine Tötung menschlichen Lebens darstelle, da menschliches Leben mit der Befruchtung beginne, die eine göttliche Fügung sei, der sich die schwangere Person nicht entgegen stellen dürfe. Dem Recht auf Selbstbestimmung der schwangeren Person setzen die „LebenschützerInnen“ also das „Lebensrecht des Kindes“ entgegen. Teilweise wird auch das Verhindern der Einnistung durch die „Pille danach“ als Tötung bezeichnet. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um eine soziale Konstruktion.
Auf Plakaten des BVL für den „Marsch für das Leben“ hält ein lachendes Kind ein großes Herz in der Hand. Dass das Kind optisch einige Merkmale von Trisomie 21 aufzeigt, ist hierbei kein Zufall. Seit Jahren erzählen auf dem „Marsch für das Leben“ Kinder mit sogenannten Behinderungen (2) davon, wie froh und dankbar sie sind, dass sie am Leben sind und ihre Mütter sie nicht abgetrieben haben. Hier wird offensichtlich, wie die „Lebensschutzbewegung“ beHindertenpolitische Anliegen für ihre Zwecke instrumentalisiert. Die „LebensschützerInnen“ geben vor, sich für Menschen mit beHinderung einzusetzen. De facto fordern sie jedoch keine praktische und politische Unterstützung von Menschen mit beHinderung, sondern ein Verbot von Abtreibungen.

Die Ideologie der selbsternannten „LebensschützerInnen“

Die „LebensschützerInnen“ nehmen die Bibel wörtlich und leiten daraus ihr Weltbild ab. Ein zentrales Motiv ihrer Ideologie ist die heterosexuelle Familie als Kern der Gesellschaft. Grundlage dieses Familienbildes ist die Annahme von zwei „von Natur aus“ unterschiedlichen Geschlechtern mit klar verteilten Rollen in der Familie. Daher warnen die „LebensschützerInnen“ vor der Auflösung traditioneller Rollenbilder und der Infragestellung dieser Zweigeschlechtigkeit durch „Gender-Ideologie“ oder „Genderismus“, die sie als gesellschaftliche Bedrohung konstruieren. Unter anderem mit diesen verschwörungstheoretischen Annahmen gegen emanzipatorische Ideen von Gender und Geschlecht bilden sie eine Front mit anderen antifeministischen gesellschaftlichen Kräften, die vom rechten Flügel der CDU/CSU, über die AfD, bis hin zur extremen Rechten reichen.

Für uns allerdings ist die Heterofamilie als Norm der Gesellschaft alles andere als natürlich. Sie ist vielmehr Ausdruck und Bestandteil patriarchal-bürgerlicher Herrschaftsverhältnisse, in denen Menschen anhand ihrer Körper und Genitalien in soziale Rollen gezwängt werden. Intergeschlechtliche Genitalverstümmelung (IGM) wird praktiziert, um diejenigen Menschen, deren Körper bei der Geburt nicht den Vorstellungen von Mann und Frau entsprechen, gewaltsam anzupassen. Auch Trans*Personen erfahren tagtägliche Gewalt und werden vom Gesetz pathologisiert und diskriminiert, weil sie nicht den Anforderungen der „natürlichen“ Zweigeschlechtlichkeit entsprechen. Die Idealisierung der heterosexuellen und ihrer Pflicht als Mutter entsprechenden Frau kann gar nicht ohne frauen*-, homo-, trans- und interfeindliche Hetze auskommen. „LebensschützerInnen“ verschärfen dies durch eine strenge und lustfeindliche Sexualmoral, die Sexualität auf die Reproduktion reduziert und alle anderen Formen gelebter Sexualität abwertet und verbietet.
Die Pflicht zur Reproduktion ist für Teile der „LebensschützerInnen“ nicht nur der Dienst am christlichen Gott, sondern auch ein Dienst für den Erhalt von Volk und Nation. Es sei die Aufgabe der deutschen Mutter, für den Wettbewerbsvorteil der Nation und den Erhalt des christlichen Abendlandes zu sorgen, unter die sie ihre körperliche Selbstbestimmung unterzuordnen hat. Auch hier sind sie sich mit Rassist*innen und Rechten einig, die in der niedrigen Geburtenrate Deutschlands den Volkstod befürchten. Hinzu kommen rassistische und nationalistisch aufgeladene Diskussionen darüber, welche Familien und welche Kinder in Deutschland als wertvoll für die Gesellschaft erachtet werden und welche nicht.

Mein Körper – meine Entscheidung!?

Die selbstbestimmte Entscheidung, wer wen, wann, wie und weswegen liebt, was wann mit dem eigenen Körper getan bzw. zugelassen wird und auch die Entscheidung über die eigene Schwangerschaft ist nicht, wie so häufig propagiert, eine „rein persönliche“ Angelegenheit.
Wir leben in einer ableistischen (3) Gesellschaft und sind Teil dieser. Dies bedeutet auch, dass es eine gesellschaftliche Norm gibt, welche Schwangerschaften ausgetragen werden sollen und welche nicht. Präimplantationstechnik und vorgeburtliche Untersuchungen, die dazu gedacht sind beHinderungen von Föten festzustellen, sind eine/Teil einer beHindertenfeindliche(n) Kultur und lehnen wir ab. Schwangere Personen werden hierdurch dem Druck ausgesetzt, für die „Qualität“ und „Gesundheit“ ihres Nachwuchses sorgen zu müssen. Diese Entscheidungen werden von sozialen Aspekten, von ökonomischen Zwängen, rassistischer Stigmatisierung und weiteren Unterdrückungsmechanismen in der kapitalistischen Gesellschaft beeinflusst. De facto sind diese vorgeburtlichen Untersuchungen zur Normalität geworden.
Der Zugang zum medizinischen System und zu Vorsorge- und Nachsorgeangeboten ist abhängig von Aufenthaltsstatus, finanziellen Mitteln, Zugang zu unabhängigen Informationen und Aufklärung, von regionaler Infrastruktur etc. Die Aussicht möglicherweise alleinerziehend zu sein, setzt Schwangere unter Druck: Alleinerziehende, davon 90 Prozent Frauen, sind einem enormen Armutsrisiko ausgesetzt. 50 Prozent der Kinder Alleinerziehender erhalten keinen Unterhalt, 25 Prozent bekommen weniger als ihnen zusteht. Knapp eine Million Kinder Alleinerziehender in Deutschland leben von Hartz-IV. Immer mehr Alleinerziehende rutschen unter die Armutsgrenze, aktuell bereits 42 Prozent. Neben der Armut steht auch die soziale Ausgrenzung der Betroffenen. Auch von Elterngeld und Elternzeitregelungen profitieren nur bereits privilegierte Bevölkerungsgruppen. Ökonomische Zwänge, soziale Ausschlussmechanismen, rassistische Stigmatisierung und Diskriminierungen sind kein individuelles Problem von Eltern. Sie sind strukturelle Probleme der kapitalistischen Gesellschaft. Diese gilt es anzugreifen!

Euer Schweigen könnt ihr euch schenken! Lieber Feminismus feiern!

Wir kämpfen für eine Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Patriarchat, in der all diese religiösen Moralvorstellungen, gesellschaftlichen Normierungen und staatlichen Zugriffe, die über das Leben und den Körper von Menschen bestimmen, keinen Platz haben.
Schwangere Menschen sollen auf Grund eines Schwangerschaftsabbruches weder gesundheitliche, noch rechtliche oder wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen müssen. Die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft soll ohne Eingriff oder Belehrungen des Staates und ohne Angst vor moralischer Verurteilung möglich sein. Dazu gehört auch der freie Zugang zu Verhütungsmitteln, ob Kondome oder Pille danach. Um die Rahmenbedingungen für eine weitreichende Selbstbestimmung über den eigenen Körper herzustellen, muss Abtreibung legalisiert werden.
Wir sprechen uns gegen Pränataldiagnostik zum Zweck einer Selektion aus und fordern stattdessen eine flächendeckende Unterstützung für Menschen mit beHinderung, ihrer Eltern und dem sozialen Umfeld. Wir wollen eine inklusive Gesellschaft, in der eine beHinderung nicht als ein Problem oder Mangel dargestellt und auch nicht als medizinisches Argument für Schwangerschaftsabbrüche angebracht wird. Kein Mensch soll sich aus kapitalistischer Verwertungslogik heraus verpflichtet fühlen abzutreiben, weil eine beHinderung des späteren Kindes wahrscheinlich erscheint.

Unterschiedliche sexuelle Lebensweisen müssen gleichberechtigt anerkannt werden! Wir wollen sexuelle Selbstbestimmung! Wir wollen lieben, wen und wie wir wollen! Wir wollen in einer Gesellschaft ohne Rassismus, Sexismus, beHindertenfeindlichkeit und Nationalismus leben. Lasst uns Feminismus feiern.
Wir kämpfen für eine emanzipatorische Praxis von Selbstbestimmung, die sich nicht in kapitalistischen Verwertungslogiken verirrt und nur jenseits von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen funktionieren kann. Dieser feministische Kampf für ein selbstbestimmtes Leben schließt notwendigerweise den Kampf gegen Staat, Nation und Kapital mit ein.

Deswegen gehen wir am 17. September auf die Straße!
Für eine befreite, emanzipierte Gesellschaft!
Gegen christlichen Fundamentalismus und reaktionäre Ideen!

17.09.2016, 12 Uhr, S Anhalter Bahnhof, Berlin: antifaschistische und queerfeministische Demonstration des What-the-Fuck!?-Bündnisses

16.09.2016, 18 Uhr, S-Schönhauser Allee, Berlin: Vorabenddemo „StoppAfd“ vom NiKa-Bündnis zu den Berliner Landtagswahlen

1 *Warum wir von ‚selbsternannten „LebensschützerInnen“‘ sprechen:
„Lebensschützer“ ist eine Selbstbezeichnung derjenigen, die gegen Abtreibungen protestieren und gegen die sexuelle und körperliche Selbstbestimmung auf die Straße gehen. Uns ist es ein Anliegen, sichtbar zu machen, dass auch Frauen an der antifeministischen Politik beteiligt sind. Da es in dem Selbstverständnis der „LebensschützerInnen“ nur zwei Geschlechter gibt, Männer und Frauen, nutzen wir das Binnen-I.

2 beHinderung*: Wir verwenden diese Schreibweise, um zu verdeutlichen, dass es die Gesellschaft mit ihren Barrieren ist, die die Menschen behindert und nicht andersherum.

3 ableistisch*: (aus dem Englischen) bezeichnet die beHindertenfeindliche Praxis einer Gesellschaft, die von einem körperlichen/geistigen „Normalzustand“ von Menschen ausgeht und sie anhand ihrer Fähigkeiten bewertet.