Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd gab es auch in Deutschland größere Black Lives Matter Demonstrationen. Schwarzen Aktivist:innen, organisierten People of Colour und migrantischen Selbstorganisationen gelang es zumindest kurzzeitig, auch einen medialen Fokus auf das Thema rassistische Polizeigewalt in Deutschland zu lenken, auch wenn der Mainstream gerne alles auf die andere Seite des Atlantiks projizieren wollte.
Aber warum gibt es eigentlich so eine große Leerstelle bei dem Thema unter Pro-Choice-Gruppen in Deutschland? Und wie könnte eigentlich sinnvolle Solidarität seitens mehrheitlich weißer feministischer Zusammenhänge aussehen?
Ein Problem könnte sein, dass schon die Rahmung unter dem Namen „Pro Choice“ historisch und aktuell ausblendet, dass die Wahlmöglichkeiten rund um Reproduktion auch in Deutschland rassistisch strukturiert und ungleich verteilt sind und dieses Framing kaum Raum für die Kämpfe von Schwarzen Menschen und PoC lässt. An einem (sehr) kurzen Abriss dazu haben wir uns im letzten Jahr mit unserem Text „Willkommenskultur für Neugeborene – What the fuck!? Rassistische Bevölkerungspolitiken vom deutschen Kolonialismus bis heute“ versucht.
Es liegt auch an der Arroganz und den Ausschlüssen weiß dominierter Pro-Choice-Bewegungen, dass Schwarze Feministinnen 1994 in den USA einen neuen Begriff für ihre Kämpfe entwickelten: reproduktive Gerechtigkeit. „Pro Choice“ war für sie eine Engführung auf die Bedürfnisse vornehmlich der weißen Mittelschicht und blendete Erfahrungen z.B. rassistisch motivierter Zwangssterilisationen oder Diskurse um Mutterschaft und Inanspruchnahme von Sozialgeldern, die ebenfalls rassistisch geprägt waren, aus.
Unter Reproduktiver Gerechtigkeit verstehen die Aktivist:innen eine Vielzahl von Rechten, die sich in drei großen Bereichen zusammenfassen lassen:
- das Recht, schwanger zu werden, selbst Entscheidungen über Entbindungsmöglichkeiten zu treffen und die freie Entscheidung, Kinder zu haben
- das Recht, eine Schwangerschaft zu verhindern oder abzubrechen
- das Recht, Kinder frei von institutioneller und interpersoneller Gewalt aufzuzuziehen
Mit dieser Rahmung wird auch viel deutlicher, was z.B. rassistische (Polizei)Gewalt mit der Entscheidung über Elternschaft zu tun haben kann: wie sicher kann ein Kind in dieser Gesellschaft aufwachsen? Welche Eltern müssen ihren Kindern im Teenageralter erklären, dass sie von Gesellschaft und Polizei als gefährlich wahrgenommen werden? Wer hat welche Zugänge zu Ausbildung, Uni, Jobs etc. und kann es sich überhaupt leisten, Kinder zu haben? [Mehr Infos zu Reproduktiver Gerechtigkeit im deutschen Kontext findet ihr beim Netzwerk Reproduktive Gerechtigkeit.
Wir als Bündnis, aber auch andere Zusammenschlüsse, die zu den Themen Schwangerschaftsabbruch und körperliche Selbstbestimmung arbeiten, müssen sich fragen, welche Relevanz die Leben(srealitäten) von Schwarzen Menschen und PoC in unserem Aktivismus haben.
Für den Anfang steuern wir das bei, was unser Expert:innenthema ist: einen kritischen Blick auf christlich-fundamentalistische AbtreibungsgegnerInnen. Denn auch unter diesen Gruppierungen gibt es im deutschsprachigen Raum seit dem Frühjahr eine vermehrte Bezugnahme auf Black Lives Matter.
In den USA schaltete die Anti-Abtreibungs-Organisation „Life Always“ bereits 2011 eine Plakatkampagne mit der Überschrift „The most dangerous place for an African American is in the womb“. Die Kampagne bezog sich auf die höhere Abtreibungsrate Schwarzer Frauen (hier gibt es leider nur binäre Statistiken) in den USA, blendete hierbei aber völlig die Machtverhältnisse aus, die eine solche Entscheidung beeinflussen. Statt auf die strukturelle Dimension einzugehen, verortete die Kampagne das angebliche Problem bei Schwarzen Frauen. Die ökonomische Situation, Zugang zu Krankenversicherung und Verhütungsmitteln usw. finden hier keinen Platz. Gleichzeitig relativiert die Kampagne die reale Bedrohung durch rassistische Polizeigewalt. In New York wurde das Plakat aufgrund massiver Proteste Schwarzer Feminist:innen entfernt, in Atlanta erging es einer ähnlichen Plakatkampagne ebenso.
Ähnliche Töne finden sich unter AbtreibungsgegnerInnen in Deutschland auch. Neben der Tatsache, dass sie Embryonen mit Menschen gleichsetzen, die aus rassistischen Gründen gewaltsam aus ihrem Leben gerissen werden, offenbaren sich hier viele weitere Abgründe.
Plattformen wie das katholische Nachrichtenportal kath.net verbreiten unter dem Hashtag „AllLifeMatters“ Embryonenbilder. Das Abreißen kolonialismusverherrlichender Statuen durch Black Lives Matter Aktivist:innen werden von ihnen als gewalttätig diffamiert, die Protestierenden als „Mob“ bezeichnet. #AllLivesMatter wird von
ihnen auch als T-Shirt vertrieben mit dem Hinweis, es sei von einem Schwarzen US-Amerikaner designt worden. Kath.net nutzt nicht nur das legitime Anliegen von Black Lives Matter schamlos für eigene Zwecke aus und lenkt vom Problem rassitischer Polizeigewalt ab, das Portal schlägt daraus auch noch finanziellen Gewinn.
Organisationen wie „Christdemokraten für das Leben“ (CDL) sind etwas subtiler und setzen weniger eigene Tweets zum Thema ab, übersetzen und retweeten aber Nachrichten von US-amerikanischen „Pro-Life“-Organisationen, wie Vorwürfe an Planned Parenthood: „Ihr tötet 100.000 junge George Floyds pro Jahr, verdient damit Geld!“. Die Entstehungsgeschichte von Planned Parenthood und deren Gründungsfigur Margaret Sanger sind eng mit rassistischer Bevölkerungspolitiken verwoben, dennoch werden solche verkürzten Botschaften weder der komplexen Geschichte rassistischer Zwangssterilisationen und gefährlicher Pillentests noch der heutigen Bedeutung der Organisation für Verhütung, Familienplanung und gesundheitliche Aufklärung in einem Land, mit einem miserablen öffentlichen Gesundheitssystem gerecht. Der Tweet bedient den in den USA verbreiteten Verschwörungsmythos, Planned Parenthood verdiene illegal Geld mit embryonalem Gewebe.
Wieder andere selbsternannte „Lebensschützer“ zeigen deutlich, dass für sie nicht jedes Leben gleich viel zählt. So nennen viele Organisationen gleich in der ersten Kurznachricht über die Ermordung von George Floyd sein kirchliches Engagement – als wäre sein Tod nur deswegen skandalös, weil es einen Christen getroffen hat oder als hätte sein Leben nur deswegen einen Wert, weil er sich bei der Heilsarmee engagierte.
Ein „Lebensschutz“, der sich nur unter bestimmten Umständen für die Opfer rassistischer Polizeigewalt interessiert und versucht, die Aufmerksamkeit auf Embryonen zu lenken, verdient diesen Namen nicht.
Leben schützen tun diejenigen, die sich für die Opfer rassistischer und rechter Gewalt einsetzen, die gegen das Sterben im Mittelmeer kämpfen und gegen die Festung Europa. Nicht diejenigen, die unter dem Deckmantel von „Lebensschutz“ über von ihnen als weiblich definierte Körper verfügen wollen. Denn wenn sie es ernst meinen würden, hätten sie die Forderungen der Black Lives Matter Bewegung hochgehalten und nicht versucht, sie zu kapern.