Ein Kommentar zu Debatten und Berichterstattung zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Polen
Bei deutschen Debatten und Berichterstattung zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Polen und den #StrajkKobiet-Protesten fehlt es uns an … Komplexität. Hier eine Annäherung – nicht als vermeintliche Expert*innen & auch nicht mit einer fertigen Position, sondern mit vielen Fragezeichen, dem Anliegen, die Infos, die wir haben, zu teilen – und Hoffnung auf Ergänzungen.
Zum Mangel an Komplexität
Entweder, es kommt zu behindertenfeindlichen Framings wie „Nicht mal, wenn es behindert ist, darf man abtreiben“. Und es gerät aus dem Fokus, dass der Skandal darin liegt, schwanger sein zu müssen, ohne das zu wollen. Nicht darin, BESTIMMTE Föten austragen zu müssen.
Oder aber die Bewegung wird pauschal als ableistisch abgetan, ohne eine tiefere Auseinandersetzung. Das ist arrogant, denn wir bekommen hier nur einen Bruchteil dessen mit, was an Debatten innerhalb polnischer feministischer Bewegungen gerade passiert.
Die meisten Menschen in Deutschland wissen wenig über die Situation behinderter Menschen in Polen. 2018 streikten viele von ihnen, Eltern und andere Angehörige vor dem Parlament, denn die Finanzierung von Hilfsmitteln, Therapien und pflegenden Angehörigen war völlig unzureichend.
Nur ein kleiner Teil ihrer Forderungen wurde erfüllt.
Mehr zu den Protesten:
I. Oko.Press: 3 things you need to know about the protest of people with disabilities and their carers in Poland
II: politicalcritique.org: 40 days of struggle towards dignity
III. Neues Deutschland: Eine gelungene Besetzung. Menschen mit Beeinträchtigung und ihre Angehörigen erkämpfen einen Teilerfolg
Es gab übrigens damals durchaus Solidarisierungen von größeren feministischen Zusammenhängen.
Auch wenn die sogenannte embryopathische Indikation zu Recht kritisiert wird – die Realität ist komplizierter.
Fragen wie: „Wer kann unter welchen Bedingungen Kinder aufziehen? Mit welcher Unterstützung? Oder: Was passiert mit Kindern, deren Eltern (sich) das nicht leisten können?“ sollten hier Raum haben.
Nicht, weil das ein Argument für selektive Pränataldiagnostik wär. Sondern weil es andere Kämpfe um reproduktive Rechte und gegen Diskriminierung gibt, die unsere Solidarität verdienen. Und weil auch behinderte Menschen beim Thema Abtreibung nicht nur als Fötus vorkommen, sondern auch als Personen, die unter Umständen einen Abbruch benötigen.
Und polnische Feminist:innen mit Behinderung beziehen in den aktuellen Debatten durchaus (auch unterschiedliche) Positionen – das wird nur hier nicht wahrgenommen:
Sie merken unter anderem an, dass das absolute Abtreibungsverbot behinderte Menschen überproportional hart trifft: „Because women with disabilities typically are structurally hindered from accessing education and employment, resulting in lower incomes, so frequently cannot afford to travel abroad for abortion. Women with mobility-related disabilities face additional barriers, as the means of travel are often inaccessible.“
Quelle: MSmagazine: In the Battle Over Abortion, Polish Feminists with Disabilities Are Claiming Their Rights
Für eine kritische Auseinandersetzung mit Pränataldiagnostik
Wir finden es nach wie vor wichtig, als Feminist:innen eine kritische Auseinandersetzung mit Pränataldiagnostik zu führen. (Unsere Position). Dazu gehört für uns aber auch die Auseinandersetzung mit den Lebenssituationen behinderter Menschen. Und die Solidarität mit ihren Kämpfen und Forderungen. Wir möchten nicht mit einem Blick aus Deutschland die gegenwärtigen Proteste in Polen beurteilen und wollen solidarisch sein mit feministischen Bewegungen. #MyBodyMyChoice!
In dem Wissen, dass wir die ganzen hitzigen Diskussionen nicht mitbekommen, die Feminist:innen in Polen führen. Weil uns bewusst ist, dass es der rechten Regierung nicht um die Rechte behinderter Menschen geht, sondern um Kontrolle über als weiblich kategorisierte Körper.
Wir fanden es tatsächlich gar nicht so leicht, Informationen auf Englisch und Deutsch zu finden und freuen uns, wenn ihr in den Kommentaren Links, Lesetipps und Ergänzungen da lasst! (Kontaktmöglichkeit)
Dieser Kommentar wurde zunächst am 4.2.21 als Thread bei twitter @nofundis von uns veröffentlicht. Link: Thread bei Twitter