In der sogenannten Corona-Krise zeigt sich, wie schlecht das deutsche Gesundheitssystem auf eine derartige Pandemie vorbereitet ist. Aber die Engpässe zeigen auch mehr als deutlich die Resultate einer kapitalistischen Gewinnausrichtung im Gesundheitsbereich – und offenbaren jene Stellen im System, wo auch schon vor Corona die Versorgungslage völlig unzureichend war. Dazu zählt in Deutschland der Schwangerschaftsabbruch.
Schwangerschaftabbruch „innerhalb einer Tagesreise“
Viel zu wenige Kliniken und niedergelassene Ärzt*innen bieten ihn heute noch an. Das ist sowohl der Kriminalisierung durch die Paragraphen 218 und 219 des Strafgesetzbuches, als auch dem massiven Druck der sogenannten „Lebensschutz“szene auf Mediziner*innen geschuldet. Das Gesetz sieht lediglich vor, dass ein Abbruch „innerhalb einer Tagesreise“ (diese Formulierung stammt nicht aus dem Mittelalter, sondern aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1993) zu bewerkstelligen sein soll. In der Realität bedeutet das, dass es zum Beispiel in drei von sieben Regierungsbezirken in Bayern oder auch in fünf Landkreisen Niedersachsens keine Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs gibt. Mancherorts müssen ungewollt Schwangere dafür bis zu 150km zurücklegen.
Zusätzlich schreibt Deutschland eine Zwangsberatung vor, die von einer staatlich anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle durchgeführt werden muss – und auch diese gibt es bei weitem nicht in jedem Winkel der BRD. Zwischen der Beratung und dem Abbruch selbst müssen drei Tage liegen.
Eine Abtreibung ist keine Gesichtsverjüngung
Doch was macht die Corona-Krise mit dem Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen? Der Regionalverkehr ist ausgedünnt, in den Bundesländern gelten Ausgangsbeschränkungen unterschiedlichen Ausmaßes. Krankenhäuser und niedergelassene Ärzt*innen sind überlastet, viele Praxen mussten bereits wegen Verdachtsfällen oder unzureichender Schutzausrüstung schließen. Auch viele Beratungsstellen mussten für den Publikumsverkehr schließen – das Gesetz sieht aber eine face-to-face Beratung vor. Bundesfrauenministerin Franziska Giffey hat sich nach eigenen Angaben mit den zuständigen Landesminister*innen darauf geeinig, dass eine Schwangerschaftskonfliktberatung während der Coronavirus-Krise auch online oder am Telefon möglich werden soll. Das ist aber noch nicht bundesweit umgesetzt. Gleichzeitig werden erste Stimmen laut, Schwangerschaftsabbrüche seien kein notwendiger Eingriff und sollten während der Pandemie ausgesetzt werden. Eine Abtreibung ist aber keine Gesichtsverjüngung, sondern ein unaufschiebbarer Eingriff. Für die Straffreiheit der Betroffenen gilt nach wie vor die 12-Wochen-Frist.
Beratungsstellen und Vereinigungen wie „Doctors for Choice“
Beratungsstellen und Vereinigungen wie „Doctors for Choice“ schlagen deswegen schon seit Wochen Alarm. Die Doctors for Choice befürchten, dass aufgrund der geschlossenen Angebote, der längeren Wartezeiten und der Einschränkungen im ÖPNV „wieder zu unsicheren Abtreibungsmethoden […] mit der Gefahr von gesundheitlichen Schäden wie Entzündungen, Sterilität, Blutungen, bis hin zum Tod“ gegriffen wird und dass „es zu mehr unerwünschten Schwangerschaften infolge Zunahme häuslicher Gewalt, sexueller Gewalt und Vergewaltigungen als Folge der Ausgangsbeschränkungen“ kommen wird (Link zur Stellungnahme).
Deshalb fordern Beratungsstellen und Pro-Choice-Aktivist*innen, dass die Schwangerschaftskonfliktberatung nun auch telefonisch oder per Videochat stattfinden kann , Beratungsscheine digital zugestellt werden und die nun ebenfalls für die Öffentlichkeit geschlossenen Krankenkassen die Formulare für die Kostenübernahme online zugäglich machen. Außerdem sollen Hürden abgebaut werden, indem der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch bis zur 9. Schwangerschaftswoche zu Hause gestattet wird – das entspräche auch den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation.
Während z.B. Länder wie Bayern, Hamburg und NRW schon Erlasse zur Telefon- bzw. Videoberatung getätigt haben, ist andernorts noch nicht viel passiert. Gleichzeitig hapert es oft in der Praxis: Kostenübernahmescheine sind nicht digital verfügbar oder für die Beratung sind aufwendige und teilweise unrealistische Identitätsprüfungsmaßnahmen nötig.
Noch mehr verschärft hat sich die Situation für ungewollt Schwangere in Ländern, die Schwangerschaftsabbrüche noch härter kriminalisieren als Deutschland. Fuhren vor Corona viele Menschen aus Polen für Schwangerschaftsabbrüche in die deutschen Grenzstädte oder nach Berlin, bleibt ihnen dieser (Aus)Weg nun auf unbestimmte Zeit verschlossen. Auch das Schmuggeln von Tabletten für den medikamentösen Abbruch ist nun nicht mehr möglich.
Du sollst nicht lügen?!
Diese dramatische Situation für ungewollt Schwangere sollte eigentlich Mitgefühl und Lösungsorientierung hervorrufen. Für christlich-fundamentalistische Abtreibungsgegner*innen ist hier hingegen keine Krise zu erkennen. Im Gegenteil. Auf die dringlichen Forderungen von Beratungsstellen wie pro familia reagieren sie mit Ablehnung und Hohn.
So unterstellt Mechthild Löhr den Beratungsstellen im katholischen „Nachrichtenmagazin“ kath.net Profitgier: „Nur Zyniker und Verächter des Lebensrechtes jedes Menschen können diese kritische Lage, in der zur Rettung von Leben und der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und in den Familien dringender denn je gebraucht wird, so schamlos für ihre Interessen >nutzen<„. Der Bundesverband Lebensrecht sieht derweil auch „Frauenfeindlichkeit“ in den Forderungen. In einer Pressemitteilung vom 24.03.20 verweist er außerdem auf angebliche Nebenwirkungen des Medikaments Mifepriston, das für den medikamentösen Abbruch genutzt wird – natürlich ohne die Häufigkeit dieser Nebenwirkungen zu beleuchten (auch im Vergleich mit frei erhältlichen Arzneien und ihren Nebeneffekten). Die Nebenwirkungen eines unsachgemäßen Schwangerschaftsabbruchs mit Kleiderbügeln oder Giften dürften derweil um einiges höher liegen – bereits jetzt sterben weltweit jährlich ca. 70.000 Menschen an den Folgen unsicherer Abtreibungen. Die Vorsitzende des Verbandes, Alexandra Linder, behauptet auch, eine Gefahr durch unsichere Abbrüche bei fehlenden Zugängen bestehe gar nicht: „Da Abtreibung aber keine lebensrettende Notfallbehandlung ist und man normalerweise nicht an einer Schwangerschaft sterben muss, ist diese Argumentation vom Grundsatz her falsch“.
Auch die Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) reagiert mit einer Stellungnahme auf die Forderungen und spricht unter anderem von der „Abtreibungslobby“: „Dass in Zeiten, in denen das Gesundheitssystem um das Leben besonders gefährdeter Personen ringt, vorgeburtliche Kindstötungen künftig Priorität genießen sollen, zeigt, wessen Geistes Kind diejenigen sind, die solche Forderungen erheben.“. Während behauptet wird, die sogenannte „Homo-“ bzw. „Abtreibungslobby“ versuche, von der Pandemie zu profitieren, sind sich christliche FundamentalistInnen jedoch selbst nicht zu schade, Corona als Bestätigung der eigenen Ideologie zu nutzen. So frohlockte z.B. Gabriele Kuby auf kath.net: „Kleine Kinder sind plötzlich da, wo sie hingehören, bei ihren Müttern. Väter sind zu Hause. Ehepaare haben Zeit, miteinander zu sprechen. Man findet sich am Familientisch zusammen, es gibt sogar Frühstück für die Kinder. Mit einem Schlag wird von der gesamten Familien-Bevölkerung Home-schooling praktiziert. Statt Giffeysche Ganztagsschule, Ganztags-Familie – einfach so, über Nacht!“. Na dann ist ja die Welt wieder in Ordnung. Überhaupt, findet die „Publizistin“, die Pandemie könne zu einer Besinnung der Gesellschaft führen und uns erkennen lassen, dass „Homoehe“, Abtreibung, die „Rebellion gegen die Identität von Mann und Frau“, die „Entfesselung der Sexualität“, die „Seuche der Pornographie“ und die angebliche Zerstörung der Familie falsch seien. Vielleicht ist Corona gar eine gerechte Strafe: „Wenn es Gott gibt und dieser Gott sein Geschöpf liebt, dann kann er nicht auf Dauer zulassen, dass wir die zehn Gebote mit Füßen treten und den Menschen selbst zerstören.“
So amüsant das zunächst klingt, diese Argumentation ist bitterernst: Hier wird versucht, die Schuld für die Corona-Pandemie unter anderem Minderheiten wie homosexuellen Menschen und Trans*personen zuzuschieben. Und damit ist sie nicht alleine. Mark Arndt, russisch-othodoxer Erzbischof von Berlin, macht ebenfalls Trans* und nicht gebährwillige Menschen mit Uterus für neue Krankheiten verantwortlich. Dazu passt auch, dass einige FundamentalistInnen glauben, als demütige Gläubige gleich ganz verschont zu werden. Hedwig von Beverfoerde, Mitorganisatorin der homofeindlichen „Demos für Alle“, hält es für ausgeschlossen, „daß der würdig empfangene Leib des Herrn ein tödliches Virus überträgt“.
Auch ihre Anti-Vielfalts-Weggefährtin Birgit Kelle verteidigt auf Twitter die Kommunion mit bestechenden Argumenten: „Wenn der Bäcker Brötchen austeilen darf, dann sollte der Priester das >Brot des Lebens< ebenfalls ausgeben können.“ Die Aussetzung einer Praxis, bei der ein Priester dutzenden anderen Menschen eine Oblate mit seinen Fingern in den Mund legt, während eine hoch ansteckende Krankheit umgeht, finden tatsächlich viele christliche FundamentalistInnen unangebracht.
In den Reaktionen der Fundis auf die Forderungen der Beratungsstellen sowie in ihrem Umgang mit der Corona-Situation allgemein zeigen sich deutlich die gleichen ideologischen Versatzstücke wie in ihrem sonstigen Menschenbild: Die Vorstellung, ein gottgerechtes Leben zu führen und eine enge Auslegung der Bibel sind sowohl in der Suche nach einem Grund für Corona, als auch in höhnischen Kommentaren gegenüber Menschen, die nicht entsprechend ihrer moralischen Vorstellungen leben, allgegenwärtig. So konnte Gabriele Kuby sich in ihrem Artikel zu Corona einen Seitenhieb auf Befürworter*innen der Sterbehilfe nicht verkneifen: „Das Bundesverfassungsgericht hat für den neuen Geschäftszweig Hilfe zur Selbsttötung am Aschermittwoch 2020 alle juristischen Steine aus dem Weg geräumt. Aber sterben müssen, wenn wir es nicht entschieden haben?“. Ein selbstbestimmter Tod ist für christliche FundamentalistInnen eine Anmaßung, da sich über „den Willen Gottes“ hinweggesetzt wird.
Die Schuldsuche bei ohnehin diskriminierten Meschen wie queeren Personen klingt zwar mittelalterlich, ist aber nichts anderes als ein neues Ventil für ihre homo- und trans*feindliche Ideologie, die auch schon den Demonstrationen gegen den sogenannten Bildungsplan für Vielfalt oder die gleichgeschlechtliche Ehe zugrunde lag.
Bezeichnend ist ebenso ihr Umgang mit Wissenschaft und Forschung. In den Reaktionen auf die Möglichkeit eines Home-Use von Abtreibungspillen finden sich zahlreiche verzerrte Darstellungen der Nebenwirkungen – ähnlich wie auch bei ihren „Informationsangeboten“ zu Schwangerschaftsabbrüchen vor der Pandemie. Studien werden also durchaus zitiert, aber manipulativ wiedergegeben. Gleichzeitig wird den Empfehlungen von Gesundheitsinstitutionen zur Infektionsvermeidung widersprochen. Fakten über die Verbreitungswege des Corona-Virus werden angezweifelt – hier aber ohne (pseudo-)wissenschaftliche Belege, sondern meist mit religiöser Argumentation. Hier gibt es einige Parallelen zum Blick auf den Klimawandel – der wird ebenfalls häufig ohne Forschungsbezüge und mit Verweis auf „Gottes Plan“ oder unter Heranziehen verschwörungstheoretischer Elemente geleugnet.
Fundis auch im Home-Office gut vernetzt
Zusammengefasst: Im Angesicht einer wie auch immer gearteten Katastrophe sind christlich-fundamentalistische „LebensschützerInnen“ nicht unbedingt die Leute, von denen viel Konstruktives zu ertwarten ist. Eigentlich keine Überraschung. Leider beweisen die schnellen Reaktionen auf die Forderungen von pro familia und Co, dass die Fundis trotz Home-Office handlungsfähig sowie untereinander vernetzt sind. Leider sind es nicht nur ein paar vereinzelte „Lebensschützer“, die in Zweifel ziehen, dass Schwangerschaftsabbrüche auch während der Corona-Krise eine notwendige Behandlung bleiben.
Schwangerschaftsabbrüche legalisieren!
Deswegen gilt es jetzt, die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Versorgung zu betonen, öffentliche Debatten aufmerksam zu verfolgen und sich einzumischen. Die Forderungen der Beratungsstellen müssen JETZT umgesetzt werden! Langfristig müssen Zwangsberatung, Bedenkfrist und das Informationsverbot durch §219a verschwinden. Und der §218, der durch die Kriminalisierung die Lehre der und die Bereitschaft zur Durchführung von Abbrüchen dezimiert, muss fallen. Weil Corona nur noch deutlicher macht, was wir alle schon wussten: Die Zugänge zu Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland sind zu rar und haben zu viele Hürden – und das ist gefährlich.
#notanoption #AbortionIsHealthcare
Pro Choice Passau hat bereits eine Online-Kampagne zum Thema gestartet, um klar zu machen, dass Abbrüche nicht aufschiebbar sind: #notanoption. Aktuell gibt es eine Petition auf change.org in der ein sicherer Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen in der Corona-Krise gefordert wird. Im englischsprachigen Raum organisieren sich viele Menschen unter dem Hashtag #AbortionIsHealthcare. Die Möglichkeiten, unsere Anliegen sichtbar zu machen, sind momentan eingeschränkt. Aber wir wissen um eure und unsere Kreativität!