Bericht von der Kundgebung des „Marsch für das Leben“ 2022 in Berlin

Der „Marsch für das Leben“ in Berlin beginnt immer mit einer Kundgebung, auf dieser gibt es verschiedene RednerInnen und Musik. In einigen anderen Jahren gab es bei den Reden ein buntes Potpourri an Themen und Positionen. In diesem Jahr wirkten die Reden und Anmoderationen mehr geplant und inszeniert – und auf wenige Themen und Narrative fokussiert.
Schwerpunkt waren Schwangerschaftsabbrüche und Sterbehilfe. Dabei gab es drei Motive in der Argumentation, die wir euch in diesem Text vorstellen wollen. Dabei zitieren wir direkt und indirekt die Fundis. Das versuchen wir sonst zu vermeiden, doch das Wissen über ihre Worte und Narrative ist notwendig, um ihre Ideologie und Strategie zu verstehen.

Fundis retten Frauen

Direkt zu Beginn stellt die Vorsitzende des Bundesverband Lebensrecht, Alexander Linder, klar, dass die Lebensschutzbewegung in den letzten Jahren tausende von Kindern und Frauen gerettet habe. Von unterschiedlichen RednerInnen wird betont, dass Frauen geholfen werden müsse und sie noch mehr Beratung brauchen – deutlich wird bei allen, am Ende einer Beratung oder Unterstützungsangebot darf keine Abtreibung stehen.

Alexandra Linder sagt, es brauche „flächendeckende Hilfe im Schwangerschaftskonflikt, statt flächendeckende Abtreibung“. Und Sylvia Pantel (die 2013-2021 für die CDU im Bundestag saß und jetzt in der Stiftung für Familienwerte wütet) erklärt, es müsse an Konzepten gearbeitet werden, die Frauen unterstützen, wenn sie schwanger sind und keine Kinder wollen. Auch ihre Vorstellung von Unterstützung kommt schnell an Grenzen: Abtreibung dürfe keine Option sei, als Alternative schlägt sie Adoption vor.

Seit dem 15.9.22 gilt in Ungarn ein Gesetz das festlegt, dass schwangere Personen vor einer Abtreibung per Ultraschall den Herzschlag des Fötus anhören müssen. Alexandra Linder schafft es die rechte Regierung in Ungarn zu verteidigen und das Gesetz gar als emanzipatorisch zu verkaufen. Sie behauptet, dass diese Regelung „Emanzipation“ sei, denn eine Frau müsse wissen was in ihrem Körper vor sich gehe.

Die christlichen FundamentalistInnen versuchen immer wieder ihre Narrativ des „ungeborenen Lebens“ zu verstärken, in dem sie Föten als selbstständig lebend darstellen. Dies machen sie durch den Verweis auf Herzschlag, die Darstellung von Embryos als ausgebildete Kinder und die Erzählung von Föten, die sich angeblich gegen Abtreibungen gewehrt haben.

Linders Verbandskollege Hartmut Steeb lässt sich dazu hinreißen zu behaupten, wer sich „für ungeborene Kinder einsetzt“ sei frauen-freundlich und nicht frauen-feindlich, da es Frauen nach Abtreibung nicht besser gehe als vorher. Sarah Göbel, die als Hebamme aus der Praxis sprechen soll, geht noch einen Schritt weiter und spricht von Abtreibungen als Trauma. Generell hat sie ein sehr eigenwilliges Konzept von Unterstützung von Frauen und „Feminismus“: Sie inszeniert das Gebären/die Geburt als Heilung. Nach durchgeführten Abtreibungen liege ein Trauma vor, so ihre Behauptung. Dieses könne durch die Erfahrung einer Geburt geheilt werden. Auch nach einer Vergewaltigung könne das Erlebnis einer Geburt heilen.
Sarah Göbel beschreibt Frauen, die eine Abtreibung erlebt haben oder vergewaltigt wurden, als traumatisiert und schwach – eine Geburt würde sie wieder zu sich bringen, sie stärken und heilen. Sie führt diese Opferinszenierung und Glorifizierung der Geburt noch ins Absurde als sie abschließend sagt: Das ist Feminismus, das die Frau stark ist – und nicht geschwächt durch Traumata.
Dabei wirft Sarah Göbel mit weiteren Fake News um sich. Sie behauptet, dass 99% der Frauen, sich für ein Kind entscheiden würden, wenn sie mehr gestärkt werden. Und, dass Geburten bei Menschen, die vorher eine Abtreibung hatten, deutlich länger dauern würden.

Fundis retten Leben und sind gegen Diskriminierung

Die selbsternannten Lebensschützer setzen Abtreibung mit Mord/Tötung gleich. Dadurch können sie ihren Kampf gegen den Zugang zu Abbrüchen als „Leben retten“ inszenieren. Interessant ist, dass sie sich in ihrem Anti-Abtreibungskampf als soziale Kräfte zu inszenieren versuchen. Die US-amerikanische Terrisa Bukovinac (von PAAU, Progressive Anti-Abortion Uprising) hält eine reißerische Rede, in der sie von einem „globalen, industriellen Apparat der Abtreibungsindustrie“ spricht. Abtreibungen bezeichnet sie als „global genocide“ (globalen Völkermord), der das Leben von mehr als einer Milliarden Menschen zerstört habe. Sie sagt „conversations are important but it is not enough.“ Reden reiche nicht aus, Bildung alleine werde eine „multimilliardendollerschwere Industrie“ nicht herausfordern, sie ruft auf direkt aktiv zu werden („non-violent direct action“).
Bukovinac nutzt Grundbegriffe und Ansätze der Social Justice Bewegung. Die Prinzipien der ‚nonviolent action for social change‘ wurden von Martin Luther King innerhalb der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung etabliert. Bukovinac instrumentalisiert diese Prinzipien und nutzt sie für ihre Agenda: sie spricht davon, dass sich Abtreibungsgegner*innen mit ihren Körpern zwischen die Unterdrückten (das Ungeborene Leben) und die Unterdrücker (Abtreibungsindustrie) stellen müssen, „wir müssen dorthin wo das Töten stattfindet. (…) Wir müssen sie retten. Wir müssen ihre Eltern retten. Wenn wir das tun, werden wir die Welt retten.“
Der Bundesverband Lebensrecht hat in den vergangenen Jahren immer wieder US-amerikanische Redner*innen eingeladen, die deutlich radikaler und gewaltbereiter als die anderen Redner*innen auftreten. Cornelia Karminiski steht mit Terrisa Bukovinac auf der Bühne und übersetzt (lückenhaft) die Rede ins Deutsche.

Alexandra Linder äußert sich zu der Entscheidung des Supreme Courts, nach der es in den USA kein Recht auf Abtreibung mehr gibt. Sie verweist darauf, dass in den letzten 51 Jahren 1/3 der Abbrüche von Afro-Amerikanerinnen durchgeführt wurden. Obwohl diese weniger als 1/3 der US-Bevölkerung ausmachen würden. Es gehe also um „ massive Diskriminierung afro-amerikanischer Kinder“. Allerdings bringt Linder diese Zahlen nicht mit gesellschaftlichen Verhältnissen in Verbindung, sondern stellt ein Abtreibungsverbot als Ausweg aus Diskriminierung dar.

Bei der Kundgebung der Fundis war auch immer wieder Pränataldiagnostik Thema. Hubert Hüppe, der seit vielen Jahren für die CDU im Bundestag sitzt, sagt, er sei sowohl vor als auch nach der Geburt für Inklusion statt Selektion. Anders als in den Jahren zuvor macht er deutlich, dass es eine inklusive Gesellschaft brauche. Er verweist auch auch das Thema Leihmutterschaft, diese mache Frauen „zu Gebärmaschinen“ und sei„Ausbeutung“. Auch hier stellt er eine Verbindung zu Pränataldiagnostik her, die Leihmütter in der Ukraine würden vertraglich verpflichtet während der Schwangerschaft den Fötus auf Trisomien zu untersuchen und ggf. abzutreiben.

Die Rede von Hubert Hüppe greift wichtige Aspekte und Ambivalenzen auf, die auch für eine feministische Auseinandersetzung relevant sind. Doch sind seine Worte nicht von Kontext und Person zu trennen. Die selbsternannten Lebensschützer nutzen das Thema Pränataldiagnostik um Schwangere zu bevormunden und ihre restriktive Abtreibungspolitik zu legitimieren.

Fundis in der Opposition

Auffällig ist, dass die RednerInnen auf der Fundi-Kundgebung sich selbst als recht schwach und wenig durchsetzungsstark inszenieren. Europa sei ein „schweres Pflaster“ für sie, so Hartmut Steeb. In Deutschland werde über Abschaffung des Paragraf 218 gesprochen, Abbrüche sollen in die Ausbildung von Ärzt*innen aufgenommen werden. Cornelia Karminski hat einen Zusammenschnitt von Reden von Politiker*innen aus Regierungskoalition und Jusos vorbereitet, der den Marsch-Teilnehmenden präsentiert wird. Die Filmschnipsel sollen wohl verdeutlichen, dass die Koalition im Bundestag allesamt für die Legalisierung von Abtreibungen sind.

Paul Cullen (Ärzte für das Leben) sagt, dass die Regierung durchsetzen wolle, dass Abtreibungen Teil der medizinischen Ausbildung werden. Das stellt für ihn ein Problem dar, er will, dass wieder
der Gedanke verankert werde, „dass es bei einer Schwangerschaft um zwei vollwertige Personen geht“.

Auch wenn es erfreulich ist, dass die Fundis sich geschwächt fühlen, ihre Darstellung passt nicht zu den politischen Mehrheitsverhältnissen. Juristisch gilt heute leider noch immer, dass der Fötus und die schwangere Person jeweils gleichwertige Rechtssubjekte sind. Und u.a. die FDP hat deutlich gemacht, dass sie von diesem Grundsatz nicht abweichen wird. Dennoch scheinen die Fundis die Streichung des Paragraf 219a und die Ampelkoalition nervös zu machen.

Worüber nicht gesprochen wurde

Interessant ist auch, welche Themen gefehlt haben. So haben die Fundis sich (fast) nicht zur Pandemie geäußert. Bis auf Paul Cullen, der behauptet hat, dass Impfstoffe aus Zelllinien von abgetriebenen Föten entwickelt worden seien. Und auch auf den Zug „Gendergaga“ sind die Fundis bei der Kundgebung in diesem Jahr nicht mit drauf gesprungen und äußerten sich bei der Kundgebung nicht zu dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz.

 

Weitere Berichte und Dokumentationen über die Fundis beim „Marsch für das Leben“:

Endstation Rechts.: Direkte Aktion für radikale Abtreibungsgegner? Link zum Artikel

Foto-Dokumentation „Marsch für das Leben“ von Lina Dahm: Link zur Bildstrecke